Du bist neu im Yoga. Ein Besuch in der Yogastunde und zu Beginn ein paar Atemübungen: Kapalabhati oder Bhastrika. Das ist echt anstrengend und dann dieser Schwindel nach der letzten Runde… DAS soll Yoga sein?
Dieser Artikel „Pranayama – Anatomie des Atmens“ soll es dir ermöglichen, selbst die Grundlagen für die Atemübungen in den Blick zu nehmen und zu üben. Kapalabhati – das ist eine wirklich fortgeschrittene Übung, die Einiges an Körperbeherrschung voraussetzt. Manch Praktizierender mach daraus eine Hyperventilationsübung – mit nicht so schönen Effekten, vom leichten Schwindel bis hin zur Ohnmacht.
Mit dieser Einleitung haben wir wissentlich ein „rotes Fähnchen“ an die Atemübungen geheftet. Sorge dafür, dass – wann immer Atemübungen in deinen Yogastunden auftauchen – du die Übungen für dich reduzierst oder sogar abbrichst, wenn du bemerkst, dass sie dir nicht gut tun. Sprich deine Yogelehrerin/deinen Yogalehrer unbedingt darauf an, besonders in der Schwangerschaft oder bei Hypertonie (Bluthochdruck).
Damit du die Atemübungen meistern kannst, folgt jetzt die Anleitung „Pranayama – Anatomie des Atmens“. Vorher noch zwei interessante Appetizer:
- eine Hymne an den Atem (Atem heißt Leben, Atmung und Emotionalität, Prana, Tor zum „Jetzt“)
- kleine Anatomie des Atemapparats (Einatmen, Atempause/Kumbhaka, Ausatmen, Hindernisse beim Atmungsprozess)
- den Atem erkunden: Achtsamkeitsübungen
- vorbereitende Körperübungen, Yogaatmung
- gängige Pranayamaübungen
- deine Variationsmöglichkeiten
- Atmung in der Asanapraxis
1. Eine Hymne an den Atem
„Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Atem des Lebens“
(Gen. 2, 7)
Atmen geschieht im Alltag zumeist unbemerkt. Folgende drei Anmerkungen könnten dich einleitend dazu bringen, mehr und mehr auch im Alltag dich bewusst und achtsam mit deinem Atem zu verbinden.
1.1 Atem heißt Leben
Atem (Odem) heißt Leben und schon diese Betrachtung könnte deinen Atem und dein Empfinden dabei verändern. Bei zwölf Atemzügen pro Minute kommen wir als Erwachsene auf 17 280 Atemzüge pro Tag, auf 6 307 200 Atemzüge pro Jahr und auf 504 576 000 Atemzüge in 80 Jahren (die Welt). Ein regulärer Atemzug versorgt dich mit ca. 500ml Luft, ein wirklich tiefer Atemzug versorgt dich mit weiteren 3l Luft (Atemzugvolumen also max. 3,5l). Bei normaler Atmung verbleiben rund 1,5l Luft in der Lunge (Residualvolumen), sodass das Fassungsvermögen der Lunge mit ca. 5l gerechnet werden kann (Atemzug + Residual). Ein Spitzensportler bringt es auf 8l, ein Apnoetaucher auf 10l Atemzugvolumen. Da ist also Vieles möglich! In der Mediation senkt sich die Atemfrequenz auf ca. 4 mal pro Minute (statt 12 bis 15 mal) – ein besonderer Aspekt, wenn man der Aussage Glauben schenkt, dass die Atemzüge unseres Lebens eigentlich gezählt sind. Du hast diese Welt betreten mit einem großen Einatmen und wirst sie verlassen mit einem großem Ausatmen, dem kein Atemzug mehr folgt.
1.2 Atmung und Emotionalität
Unsere Atmung ist nicht nur ein körperlicher Vorgang, sie ist sehr gebunden an unser emotionales Befinden und im Alltag reflektorisch: fein-grob, tief-oberflächlich, schnell-langsam, fließend-stockend, genußvoll-unbemerkt. Gleichzeitig können wir unseren Atem aber auch willkürlich lenken und anders herum unseren emotionalen Zustand beeinflussen und ausgleichen: Kraftvolles Atmen bei Müdigkeit, feines und langsames Atmen bei gestresstem Hecheln, tief durchatmen, wenn einem der Atem stockt und genussvolles Ausseufzen, wenn wir eine Last loswerden wollen.
1.3 Luft, Sauerstoff und Prana
Luft, Sauerstoff und Prana: Tiefes Atmen öffnet nicht nur körperlich einen Raum und fördert das Gefühl von Weite, es versorgt uns mit Sauerstoff und mit Prana – deswegen sind Atemübungen ein wichtiger Teil von Pranayama. Nach yogischem Konzept kommen wir mit einer gewissen Menge Prana (Lebensenergie) auf die Welt, mit einer gesunden Lebensführung können wir Prana bewahren, ja sogar vermehren: Pranayama verlangsamt das Altern, Praktizierende erfreuen sich der energetisierenden Wirkung und eines kräftigen Immunsystems.
1.4 Atem – ein Tor zum „Jetzt“
Du kannst Atmen üben, um körperlich wacher und fitter zu werden oder um dich emotional auszugleichen. Zudem sind Atemübungen sehr oft ein Bestandteil von Achtsamkeits- und Meditationpraxis. Warum?
Wie kaum eine andere Übung kann dich das bewusste Atmen ins „Jetzt“ bringen – jeder Atemzug ist einmalig, jetzt in diesem Moment. Wenn du die körperlichen Bewegungen und Empfindungen sorgfältig beobachtest, kommt dein Gedankenkarussell, welches sich vornehmlich mit Vergangenem oder Zukünftigem beschäftigt, zur Ruhe. Dieser eine Atemzug – Jetzt. Die Atempause – Jetzt…
2. kleine Anatomie des Atemapparats
Die folgenden Übungen machen um so mehr Sinn, je mehr du über deinen Atemapparat weißt. Beobachten wir mal die Prozesse von Ein- und Ausatmen und vergessen wir die wichtige Atempause nicht („Äußere Atmung beim Menschen, Heinrich Heine Universität Düsseldorf“).
2.1 Einatmung
Das Zwerchfell, welches Bauchraum vom Brustraum trennt, zieht sich aktiv nach unten, die Bauchmuskulatur entspannt, die Rippenbögen weiten, die Schultern (Atemhilfsmuskulatur) heben sich. Es entsteht ein Unterdruck, sodass Luft durch die Nase eingezogen wird (die Lunge selbst besitzt keinen Muskel, verhält sich also passiv und wird aufgezogen, wie eine Spritze). Die Luft fließt also durch die Nasenöffnungen in den Körper hinein, durch die Luftröhre und die oberen/unteren Bronchialwege in die Lunge selbst, die ca. 300 Millionen Lungenbläschen (Alveolen) füllen und weiten sich. Die Einatmung ist körperlich der aktivere Prozess.
2.2 Atempause (Kumbhaka)
Der Gasaustausch (Diffusion) findet vor allem in den Atempausen statt. Auf der Gesamtoberfläche der Lungenbläschen von ca 80–120 m2 wird Sauerstoff aufgenommen und vor allem CO2 wieder abgegeben. Das Blut wird mit Sauerstoff angereichert und durch die Aterien zu den Organen gebracht. Durch die Venen fließt „verbrauchtes“ Blut zur Auffrischung zur Lunge hin. Das gesamte Blutgefäßsystem ist ca. 150.000 km lang.
Im Yoga wird diese Atempause Kumbhaka genannt und sie wird bewusst erlebt und zeitlich ausgedehnt: Prana wird gesammelt. Auch physiologisch kommt der Atempause ein ganz hoher Wert zu. Entfällt die Atempause, so entfällt auch der Gasaustausch – eine solche pausenlose Atmung nennen wir im Extremfall „Hyperventilation“ (es droht das Ersticken trotz heftiger Atembewegungen).
2.3 Ausatmung
Bei einer flachen Ausatmung entspannt nun einfach die Atemhilfsmuskulatur (Rippenbögen und Schultern) und das Zwerchfell, hierbei verbleibt eine Menge an Restluft (residual) in der Lunge. Eine kräftige Ausatmung geschieht nun durch das Zusammenziehen der Bauchmuskulatur – der Bauchnabel bewegt sich nach innen in Richtung Wirbelsäule und das Volumen erhöht sich um ein Vielfaches.
Je tiefer wir ausatmen, desto mehr Platz schaffen wir für einen folgenden, wirklich tiefen Atemzug. Wer also lernen will, wirklich tief zu atmen, sollte sich auf eine aktive und kraftvolle Ausatmung konzentrieren.
2.4 Hindernisse beim Atmungsprozess
Wenngleich sich ein Babybauch einatmend mächtig aufblähen und zum lauten Schreien zusammenziehen kann, so ist die Atmung bei uns Erwachsenen oft nicht mehr ganz so frei und natürlich. Müdigkeit und Kraftlosigkeit sind die Begleiterscheinungen einer chronisch flachen Atmung.
Gründe für eine erschlaffte Atmung gibt es viele:
- ungünstige Körperhaltung: Wie oben gezeigt, braucht der Bauch Bewegungsfreiheit, damit das Zwerchfell wirklich arbeiten kann. Zuviel Sitzen und eine gekrümmte Körperhaltung nehmen diesen Raum. Zu Pranayama gehört also wesentlich eine gut aufgerichtete Körperhaltung.
- verkrampfungen der Muskulatur: Gerade die Bauchmuskulatur braucht die Fähigkeit zum Anspannen und zum Lösen. Ein beweglicher, weicher Körper scheint aber wenig in die heutige Zeit – die Zeit der muskelgestählten „Helden*innenkörper“ mit Sixpack und flachem Bauch – zu passen: „Weich ist schwach und fest ist stark“, könnte das Körpermotto unserer Zeit sein (freilich war das nicht immer so). Man kann davon ausgehen, dass viele von uns unbewusst auf die tiefe „Bauchatmung“ aus diesem Grunde eher unbewusst verzichten und an einen festen Unterbauch festhalten – wie einschneidend modisch enge Jeanshosen sein können, mag man sich denken. Dass gerade die Bauchmuskulatur als Teil der Haltemuskulatur auch aufgrund physischer (Skelett) und psychischer Konstitutionen (Trauma/Schock, Stress, Ärger, Angst=Enge) eingeschränkt sein kann, muss an dieser Stelle ergänzt werden.
- unbewusste Atemgewohnheiten: Und ja, dann noch ein dritter Grund. Wer nicht gerade Sänger, Instrumentalist für ein Blasinstrument oder Sportler ist, wird sich kaum bewusst mit seinem Atem und seinen Atemmustern beschäftigt haben. Ein Grund mehr, das zu ändern, es lohnt sich.